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Start Up entlässt die Jugendlichen ins Leben

Einrichtung für unbegleitete Minderjährige hat ihren Zweck erfüllt

In knapp drei Jahren hat das Team der Wohngruppe Start Up der St. Gregor-Jugendhilfe 15 Jugendliche in ein selbstständiges Leben in Deutschland begleitet. Nun hat das Jugendamt keinen Bedarf mehr, es kommen keine unbegleiteten Minderjährigen mehr nach Schwaben, das Projekt wird eingestellt. Otto Bachmeier, Geschäftsführer der St. Gregor-Jugendhilfe, freut sich trotzdem: „Wir schließen mit dem Gefühl, das Richtige getan zu haben, ein Sprungbrett gewesen zu sein.“ Von der Integrationsleitung der jungen Flüchtlinge trotz aller Belastungen ist er beeindruckt: „Wir können von ihnen lernen, was persönliche Größe ist.“ 

15 Jugendliche aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, Nigeria, Somalia, dem Irak und Ägypten hat das Team der Wohngruppe Start Up der St. Gregor Kinder-, Jugend- und Familienhilfe betreut. Ziel war es, die Jugendlichen möglichst schnell zu integrieren „schulisch, ausbildungstechnisch, lebenspraktisch, gesellschaftlich“, wie Gruppenleiter Christian Kade erklärt. Christine Hagen, Jugendamtsleiterin des Landkreises Augsburg, erkennt an, wie gut das gelungen ist: „Wir sind dankbar, dass wir mit Start Up einen Partner hatten, der jede Herausforderung annahm und die mit den jungen Flüchtlingen aus vielen verschiedenen Ländern erfolgreich in ihr neues Leben begleitet haben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der St. Gregor-Jugendhilfe haben bei der herausfordernden Arbeit hochprofessionelle Arbeit geleistet.“ Und das in kurzer Zeit: Die durchschnittliche Verweildauer in der Gruppe betrug ungefähr ein Jahr. „Ich gehe jetzt mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Wir durften miterleben, wie die unterschiedlichsten Jugendlichen die deutsche Gesellschaft und das Leben hier kennen lernen, sich damit auseinandersetzen, sie begreifen. Wir haben viele Jugendliche gut integriert. Diese Chance hätten wir gern noch mehr gegeben“.

Über die Hälfte der Jugendlichen hat bereits eine Ausbildung begonnen, als Trockenbauer, Gebäudereiniger, Friseur, Koch, Krankenpflegehelfer, Metallbauer, Maler und Lackierer – Handwerksberufe, für die es zu wenig (deutsche) Bewerber gibt. “Da sind wir schon stolz“, freut sich Gruppenleiter Christian Kade. Zwei Jungs, die erst vor zwei Jahren nach Deutschland kamen, haben in diesem Sommer den Qualifizierenden Hauptschulabschluss QA mit einem Zweier-Durchschnitt geschafft – eine reife Leistung, wenn man zunächst Deutsch von null auf lernen muss.

Wie haben die Pädagoginnen und Pädagogen das geschafft, dass sich die Jugendlichen trotz schwerer Belastungen in so kurzer Zeit soweit stabilisieren konnten, dass sie nun schon auf dem Weg zum selbständigen Mitglied der Deutschen Gesellschaft sind? „Das ist in erster Linie die Leistung der Jungs selbst“, meint Kade, „die eine sehr hohe Motivation hatten. Und dann haben auch Partner wie das Amt für Jugend und Familie gemeinsam mit der Wirtschaftliche Jugendhilfe, die Vormünder der jungen Menschen und die Schulen dazu beigetragen. Wichtig war auch die kompetente medizinische Versorgung durch die Traumaambulanz des Josefinums, niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater, wie zum Beispiel Dr. Lüthy, die Schmerzambulanz der Kinderklinik und die Onkologie.“ Das Team in der Wohngruppe sorgte für das Gefühl der Sicherheit, ein ruhiges Umfeld mit Rückzugsmöglichkeiten und gleichzeitig Hilfsangeboten, wo immer sie benötigt wurden. „Start Up“ bot die Zeit sich zu besinnen, viele Einzelgespräche, intensive Beziehungsarbeit durch das Team, die Vermittlung und Koordination externer Hilfen und die notwenige – teils auch fordernde – Unterstützung beim Einstieg in Gesellschaft und Beruf.

Einer, der das bereits geschafft hat, ist Abdul. Wie so viele ist er monatelang unterwegs gewesen, bis er nach Deutschland kam. Hier war er zunächst in einer Clearinggruppe, dann in der Kinder- und Jugendgruppe Ferdinand in Steppach. Da er sich mit gleichaltrigen, älteren Jugendlichen wohler fühlte, wechselte er in die Gruppe Start Up. „Abdul hätte mit seinen gesundheitlichen Problemen in Afghanistan keine Überlebenschance gehabt“, ist Kade überzeugt. In der Kinderklinik sei er jedoch so gut versorgt worden, dass er jetzt ein weitgehend normales Leben führen kann, wenn auch lebenslang mit medikamentöser Versorgung. „Das ist schon eine tolle Sache, dass die humanitäre, medizinische Versorgung hier so gut greift“, sagt Kade. Ein Jahr lang ist Abdul täglich zur Mittelschule Neusäß gefahren, hat dort einen Teil-QA mit guten Noten gemacht. In freiwilligen Praktika war er so überzeugend, dass er nun eine Ausbildung zum Koch in der Brauereigaststätte Fuchs in Steppach machen darf. Dort wohnt er in einer Betriebswohnung und hat somit in allen Bereichen den Weg in ein selbständiges Leben geschafft. Kade: „Abdul hat schon immer gewusst, was er will und was er nicht will und er hat einen starken Willen. Da er aus medizinischen Gründen ein Bleiberecht hat, hat er eine wirklich gute Perspektive.“

Die Sicherheit, in Deutschland bleiben zu können, haben die anderen Jugendlichen nicht, alle Asylanträge wurden negativ beschieden. Aus den Medien und über andere Geflohene hören sie immer wieder von Abschiebungen. Das ist eine hohe Belastung, auch wenn die Jungs zumindest bis zur Volljährigkeit vor Abschiebung sicher sind. Wer in Ausbildung ist, kann eine Ausbildungsduldung bekommen – aber immer nur für ein Jahr. „Dass es trotzdem gelungen ist, Arbeitgeber zu finden, die Jugendlichen einen Ausbildungsvertrag geben, haben wir auch der Handwerkskammer zu verdanken, die sich sehr eingesetzt hat, zum Beispiel auch gegenüber der Zentralen Ausländerbehörde ZAB“, erkennt Kade an. Zum Glück musste sein Team bisher nicht erleben, dass einer ihrer Schützlinge abgeschoben wurde – auch nicht von denen, die bereits ausgezogen sind. Einige sind jedoch noch in laufenden Widerspruchsverfahren. Die Hoffnung ist: Jugendliche können nach derzeitiger Gesetzgebung bei guter Integration, ohne mit dem Gesetz in Konflikt geraten zu sein und wenn sie die Schule besuchen oder eine Berufsausbildung machen oder haben, bereits nach vier Jahren ein Bleiberecht erhalten. Diese Voraussetzung erfüllen die meisten Jugendlichen, die Start Up durchlaufen haben.

Der siebzehnjährige Farhad hat ebenfalls gerade den QA erfolgreich bestanden und lernt jetzt Krankenpflegehelfer in Aichach. Keine leichte Entscheidung, denn diese Schule ist keine Ausbildung im Sinne des Aufenthaltsrechtes. Farhads großes Ziel ist langfristig das Medizinstudium. „Das erste Jahr war sehr schwer“, immer habe er an seine Familie in Afghanistan denken müssen, erinnert sich Farhad. Nach sechs Monaten in Augsburg, sei er in die Gruppe „Umfeld“ in Westendorf gekommen. Da sei es schon besser geworden. Ja und dann, dann habe er mit der Zeit „richtig angefangen zu leben“ – mit Schule, Sport und Freunden, wie es für Jugendliche normal sein sollte. Sich auf Deutsch verständigen zu können, habe ihm sehr geholfen. Kade bestätigt, dass Farhad sehr schnell und sehr gut Deutsch gelernt hat. Und auch seine Sturheit und Hartnäckigkeit habe ihm geholfen. Nicht alle Pläne haben sich immer sofort genauso umsetzen lassen, wie Farhad sich das wünschte. Jetzt macht er nach längerer Überlegung und einigen Praktika, in denen er sich ausprobierte, „auf dem Weg zum Chefarzt“ eben doch zunächst diese Ausbildung zum Krankenpflegehelfer. „Da muss ich noch viel Gas geben“, weiß Farhad. Wohnen wird er künftig im Kolping-Lehrlingswohnheim in Stadtbergen, wo er zunächst noch zwei Stunden in der Woche sozialpädagogisch betreut wird. „Das ist optimal, wegen Briefen, Behörden und so“, meint Farhad.

Ebenfalls aus Afghanistan kam Shawkat, 17 Jahre, vor zweieinhalb Jahren – ganz allein. „Er ist immer einer gewesen, der alles kritisch hinterfragt hat, mit 1.000 Wenn’s und Aber’s“, berichtet Christian Kade. Die letzten zwölf Monate lebte Shawkat in der Wohngruppe Start Up und besuchte die Dr. Jaufmann-Mittelschule in Bobingen, die er kürzlich erfolgreich abschloss, mit dem QA mit einer Durchschnittsnote von 2,4. Dazu musste er unter Anderem eine Mappe über den Einzug in die erste Wohnung erstellen, mit Preis und Lage der Wohnung, Entfernung zur Ausbildungsstelle, Verkehrsmittel und vielem mehr. „Dabei hat mir zum Glück meine Lehrerin geholfen, weil ich gar nicht wusste, wie man so was macht.“ Der praktische Teil fiel ihm leicht: das Essen zum Einzug kochen, Tomatensuppe und Erdbeercreme. „Shawkat kocht sehr gut, damit hat er regelmäßig der Wohngruppe etwas Gutes getan. Unsere Geschäftsführer Herr Bachmeier war beim Abschiedsessen auch ganz begeistert von seinen Kochkünsten“, erzählt Kade. Diese Begabung wird er jetzt jedoch nicht zum Beruf machen. Mit den Betreuern in der Wohngruppe hat er fleißig Bewerbungen geschrieben. „Beim Vorstellungsgespräch haben sie gesagt, dein Deutsch ist so gut, du kannst die Ausbildung zum Maler und Lackierer anfangen.“ Kade: „Es ist wirklich beeindruckend, wie schnell Shawkat trotz aller Belastungen, Schwierigkeiten mit dem BAMF, der Unsicherheit, ob er in Deutschland bleiben kann und der Sorge um die Familie im Heimatland, alle Hürden gemeistert hat: Deutsch lernen, Schule, Proben, Noten, den QA, Praktika, Bewerbungen und den Weg in die Ausbildung.“ Über lange Zeit musste der Junge dabei mit sehr wenig Schlaf auskommen, den Tag mit Kopfschmerzen beginnen und beenden – Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Der einzige aus der Familie, zu dem er Kontakt hat, ist ein Bruder, der in Hildesheim eine Ausbildung macht. Da er erst siebzehn ist, wird Shawkat nach Schließung von Start Up in eine teilbetreute Wohngruppe ziehen. „Das ist nur zehn Minuten von der Ausbildungstätte entfernt, es wäre toll, wenn es Shawkat da gefällt. Dann können wir hier auch leichter zusperren, wenn wir wissen, dass Ihr alle gut aufgehoben seid“, wendet sich Kade an den jungen Mann. Der ist noch skeptisch: ob sein Bruder da wohl mal bei ihm übernachten darf? Jetzt muss er erst mal weg, Walzer für den Tanzstundenabschlussball üben. Ob ihm der Deutsche Klassiker gefalle? „Vor – zurück – vor – zurück – und drehen“, Shawkat lacht. Verstecken muss er sich bei Ball zum Glück nicht. Der Freundeskreis der Gregor-Jugendhilfe hat den drei Flüchtlingen, die jetzt gerade in Bobingen ihren Schulabschluss gemacht haben, nach ihrem netten schriftlichen Antrag einen finanziellen Zuschuss zu Hemd und Anzug spendiert, damit sie sich für ihren Abschlussball in der Singoldhalle angemessen anziehen und auch äußerlich in die Gruppe der Gleichaltrigen integrieren können.