Wann kamen Sie ins katholische Waisenhaus und mit welchem Auftrag?
Schwester Johanna: Das war 1978 nach einer stressigen Zeit. Ich hatte gerade die Prüfungen an der Fachhochschule für Sozialpädagogik und an der Hochschule für Theologie abgelegt und mich auf die ewige Profess vorbereitet. Dann hat mir die Leiterin gesagt, dass ich gleich am Montag nach der Profess nach Augsburg fahren soll, dort sind acht Geschwisterkinder angekommen. Dass ich vorher doch noch eine Woche Urlaub bekam, verdanke ich einer Kollegin, die für mich einsprang. Eigentlich war der Auftrag gewesen, eine Aufnahme- und Diagnosegruppe aufzubauen, in der wir Kinder und Jugendliche kennenlernen, um dann zu entscheiden, welches das beste Angebot für sie ist. Doch davon war dann nicht mehr die Rede, denn nun hatten wir eine Gruppe aus einer Familie, mit Kindern von fünf Monaten bis 14 Jahren. Und für die war nichts vorbereitet. Eine junge Erzieherin, ein Berufspraktikant und ich waren somit gut ausgelastet.
Ich war damals 32 Jahre alt, vor dem Studium Erzieherin im Kindergarten gewesen und habe ein Jahr in einem Schifferkinderheim und während der beiden Praxissemester in einer heilpädagogischen Gruppe für männliche Jugendliche gearbeitet. Das war zwar eine gute Vorbereitung – und trotzdem waren wir alle „Anfänger“. Und der Anfang war hart, für die Kinder, die in eine ganz andere Welt kamen und auch für uns. Ich lebte mit diesen vorerst acht Kindern, zu denen bald noch zwei Jungen und ein weiteres Mädchen kamen, in einer Familiengruppe. Die Anordnung der Räume war wenig familiär. Es war ein langer Gang, rechts und links die Schlafzimmer, in denen zwei bis vier Kinder und ich schliefen sowie die sanitären Anlagen. Am Ende des Gangs waren das Wohnzimmer, ein Nebenraum mit Fernseher und die Küche. Zu dieser Zeit war die Versorgung noch zentral d.h. wir wurden bekocht und die Wäsche wurde gewaschen. Später war dann die Selbstversorgung ein großes Thema, das wir pädagogisch nutzen wollten.
Laut Ihrer Ordensgründerin Teresia sollten Sie die Kinder lieben und ihnen eine Mutter sein. Waren Sie eine strenge Mutter – oder was hatten Sie für einen Erziehungsstil?
Ich hatte von mir nicht die Vorstellung, Mutter zu sein – obwohl die jüngeren Kinder mich schon als Mutterersatz sahen. Ich wollte einfach da sein für die Kinder, die es ja nicht leicht hatten. Aber auch mit den Kolleginnen und Kollegen überlegen, wie wir alles professionell am besten meistern. Die pädagogische Auseinandersetzung, wie wir unsere Arbeit tun, fand in unserem Team statt. Und mein persönlicher Stil? Das kommt ganz darauf an. Ich hab mich nicht als sehr streng empfunden aber trotzdem muss man konsequent sein und das ist oft schwer.
Welche Schwierigkeiten gab es denn? Die Kinder waren ja wahrscheinlich – wie heute – auch nicht immer einfach.
Die gesamte Situation war nicht einfach. Es war eine Umbruchzeit in den Heimen. Schon der Name „Katholisches Waisenhaus“ war nicht mehr stimmig. Und das Gebäude war auch nicht ideal, um pädagogische Heimerziehung zu verwirklichen. Dazu kamen die Probleme mit den einzelnen Kindern. Manchmal sahen uns die größeren Kinder wie Verbündete, dann aber wieder mal als Konkurrenz zur eigenen Mutter. Nach vier Jahren konzipierten wir nach vielen Überlegungen und Gesprächen eine heilpädagogische Kindergruppe, die „Wawuschels“. Die kleineren Kinder kamen mit jeweils einer Bezugserzieherin in diese neue Gruppe, die auch von den Räumen her passender für Kinder war.
Den Namen „Wawuschel“ hatten wir von dem Buch, das wir gelesen hatten und wir sind an Fasching auch als Wawuschels aufgetreten. Ich finde, dass das Wort „intensiv“ diese Zeit am besten beschreibt: die Beziehungen, meine Arbeitszeit, Freud und Leid. Was hat Ihnen bei dieser schwierigen Aufgabe geholfen? Hilfe war für mich meine Schwesterngemeinschaft, die hinter mir stand – wofür ich den einzelnen Schwestern noch heute dankbar bin – die Zeiten der „Unterbrechung“ zum Gebet oder einfach zur Stille oder zum Gespräch. Außerdem die Zusammenarbeit und der Zusammenhalt im Team. Wir hatten regelmäßig Teamgespräche und ich bin immer wieder in Supervision gegangen. Auch die begleitenden Beratungsgespräche taten mir gut, wenn Kinder in Therapien waren und die Fortbildungen unterschiedlicher Art.
Was lag Ihnen selbst im Umgang mit den Kindern besonders am Herzen? Was wollten Sie den Kindern mitgeben?
Zunächst wollte ich einfach meine Zeit und meine Kraft den Kindern zur Verfügung stellen, von denen ich wusste, dass sie nicht auf der Sonnenseite des Lebens waren. Mir war wichtig, dass die Kinder Lebensmut und Lebensfreude gewinnen, dass sie sich nicht entmutigen lassen, dass sie ihren eigenen Weg finden. Und das heißt, jeden Tag die kleinen Dinge tun, die vielen Konflikte nicht scheuen, die positiven Situationen nützen, ein Stück Lobby für diese Kinder sein, in Kontakt mit Lehrern und Ämtern sein und auch Auseinandersetzungen nicht scheuen.
Ich musste allerdings mit der Zeit lernen, dass dies trotz besten Willens und allen Einsatzes nur Stückwerk bleibt. Lernen, dass nicht alles von mir selbst abhängt, sondern dass ich sagen darf: Ich tu das meine, das andere überlasse ich dem lieben Gott. Ich habe heute noch ein von Monika gemaltes Bild auf dem alle Wawuschels unter dem Schutzmantel Mariens sind – und Maria lächelt.
Was haben Sie in besonders schöner Erinnerung?
Viel, sehr viel. Das gäbe ein ganzes Geschichtenbuch. Z.B. das Vorlesen von vielen unterschiedlichen Büchern vor dem Einschlafen, die Gespräche und lustigen oder nachdenkenswerten Situationen, die Originalität dieser Kinder. Unsere gemeinsamen Unternehmungen: den Ferienaufenthalt in Bliensbach und die vielen Ferien in Unterammergau, die Wanderungen, verbunden mit den lustigsten und auch oft herausfordernden Situationen. Wie wir Erzieher miteinander „blödelten“ und miteinander lachten. Wie wir Fasching feierten oder als beim Weihnachtsgottesdienst die Kinder ein Krippenspiel gestalteten und die Mädchen mit der Mandoline „Stille Nacht“ spielten. Da entstand ein ganz starkes Gemeinschaftsgefühl, angefangen bei den Kleinen bis hin zu den Lehrlingen. Das „Monerle“ hat danach einmal gesagt: Ich bleib ganz lang da, bis ich ganz alt bin – das war allerdings nicht unser Ziel.
Können Sie uns noch eine lustige Anekdote aus dem Waisenhaus erzählen?
Einmal erlebten wir, wie die Lehrlinge zum Fenster hinaus riefen „Es lebe das Katholische Waisenhaus“ – und das war keine Provokation! Es war an einem Samstagabend. Ich war todmüde. Die Kleinen waren im Bett. Und den „Großen“ wollte ich erlauben „Wetten dass“ mit Frank Elstner anzuschauen. Es hatte schon begonnen und ich sah, dass es in Augsburg stattfand. Und dann kam die Saalwette: „Wetten, dass Sie es nicht schaffen, dass 50 Schwestern mit ihren Rädern hier in den Kongresssaal kommen?“ Ich rannte hinunter zu den anderen beiden Schwestern und entschieden sofort, dorthin zu radeln. Und dann riefen wir im Waisenhaus an, dass alle Schwestern, denen es irgendwie möglich ist, mit einem Fahrrad kommen sollten. Wir waren schließlich acht Schwestern. Sr. Ingfried, die sich von ihren Buben ein Herrenfahrrad auslieh, und eine Schwester mit über 80 Jahren wurden vom Hausmeister transportiert. Und wir haben die Wette gewonnen. Ja, und dann riefen die Lehrlinge aus dem Fenster: „Es lebe das Katholische Waisenhaus.“
Wie und mit welcher Aufgabe leben Sie heute?
Seit 1995 lebe ich in München-Au in einer Schwesterngemeinschaft und bin an der Fachakademie für Sozialpädagogik tätig. Mein Schwerpunkt ist die Begleitung verschiedener Praktika. Ich setze mich dafür ein, dass junge Menschen mit Freude und Engagement den Erzieherberuf erlernen. Im Orden ist es ja so, dass man auch wieder andere Aufgaben bekommt, so lange man eben kann.